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Ohne lange zu überlegen und ohne zu wissen, was ich ihr sagen wollte, wählte ich die Nummer von Monika Silvs. Es hatte noch nicht zum erstenmal ausgeklingelt, da hob sie schon ab und sagte: »Hallo«.

Schon ihre Stimme tat mir wohl. Sie ist klug und kräftig. Ich sagte: »Hier Hans, ich wollte. . .« Aber sie unterbrach mich und sagte: »Ach, Sie . . .« Es klang nicht kränkend oder unangenehm, nur war deutlich herauszuhören, daß sie nicht auf meinen, sondern auf jemand anderes Anruf gewartet hatte. Vielleicht wartete sie auf den Anruf einer Freundin, ihrer Mutter - und doch war ich gekränkt.

»Ich wollte mich nur bedanken«, sagte ich, »Sie waren so lieb.« Ich konnte ihr Parfüm gut riechen, Taiga, oder wie es heißt, viel zu herb für sie.

»Es tut mir ja alles so leid«, sagte sie, »es muß schlimm für Sie sein.« Ich wußte nicht, was sie meinte: die Kostertsche Kritik, die offenbar ganz Bonn gelesen hatte, oder Maries Hochzeit, oder beides.

»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte sie leise.


»Ja«, sagte ich, »Sie könnten herkommen und sich meiner Seele erbarmen, auch meines Knies, das ziemlich stark geschwollen ist.«

Sie schwieg. Ich hatte erwartet, daß sie sofort Ja sagen würde, mir war unheimlich bei dem Gedanken, daß sie wirklich kommen könnte. Aber sie sagte nur: »Heute nicht, ich erwarte Besuch.« Sie hätte dazu sagen sollen, wen sie erwartete, wenigstens sagen können: eine Freundin oder einen Freund. Das Wort Besuch machte mich elend. Ich sagte: »Nun, dann vielleicht morgen, ich muß wahrscheinlich mindestens eine Woche liegen.«

»Kann ich nicht sonst etwas für Sie tun, ich meine etwas, was sich telefonisch erledigen läßt.« Sie sagte das mit einer

Stimme, die mich hoffen ließ, ihr Besuch könnte doch eine Freundin sein.


»Ja«, sagte ich, »Sie könnten mir die Mazurka in B-Dur Opus 7 von Chopin vorspielen.«

Sie lachte und sagte: »Sie haben Einfälle.« Beim Klang ihrer Stimme wurde ich zum erstenmal schwankend in meiner Monogamie. »Ich mag Chopin nicht sehr«, sagte sie, »und spiele ihn schlecht.«

»Ach, Gott«, sagte ich, »das macht doch nichts. Haben Sie die Noten da?«


»Irgendwo werden sie sein«, sagte sie. »Moment bitte.« Sie legte den Hörer auf den Tisch, und ich hörte sie durchs Zimmer gehen. Es dauerte einige Minuten, bis sie zurückkam, und es fiel mir ein, was Marie mir einmal erzählt hatte, daß sogar manche Heilige Freundinnen gehabt hatten. Natürlich nur geistig, aber immerhin: was geistig an der Sache war, hatten diese Frauen ihnen gegeben. Ich hatte nicht ein- mal das.

Monika nahm den Hörer wieder auf. »Ja«, sagte sie seufzend, »hier sind die Mazurki.«

»Bitte«, sagte ich, »spielen Sie doch die Mazurka B-Dur Opus 7 Nr. 1.«


»Ich habe jahrelang nicht mehr Chopin gespielt, ich müßte ein bißchen üben.«


»Vielleicht möchten Sie nicht gern, daß Ihr Besuch hört, wenn Sie Chopin spielen?«

»Oh«, sagte sie lachend, »der soll es ruhig hören.«


»Sommerwild?« fragte ich ganz leise, ich hörte ihren überraschten Ausruf und fuhr fort: »Wenn er's wirklich ist, dann schlagen Sie ihm den Deckel ihres Flügels auf den Kopf.«

»Das hat er nicht verdient«, sagte sie, »er hat Sie sehr gern.«

»Das weiß ich«, sagte ich, »ich glaube es sogar, aber mir wäre lieber, ich hätte den Mut, ihn umzubringen.«

»Ja«, sagte ich, aber wir legten beide nicht auf. Ich hörte ihren Atem, ich weiß nicht wie lange, aber ich hörte ihn, dann legte sie auf. Ich hätte den Hörer noch lange in der Hand gehalten, um sie atmen zu hören. Mein Gott, wenigstens der Atem einer Frau.


Obwohl die Bohnen, die ich gegessen hatte, mir noch schwer im Magen lagen und meine Melancholie steigerten, ging ich in der Küche, öffnete auch die zweite Büchse Bohnen, kippte den Inhalt in den Topf, in dem ich auch die erste Portion gewärmt hatte, und zündete das Gas an. Ich warf das Filterpapier mit dem Kaffeesatz in den Abfalleimer, nahm ein sauberes Filterpapier, tat vier Löffel Kaffee hinein, setzte Wasser auf und versuchte, in der Küche Ordnung zu schaffen. Ich warf den Aufnehmer über die Kaffeepfütze, die leeren Büchsen und die Eierschalen in den Eimer. Ich hasse unaufgeräumte Zimmer, aber ich bin selber unfähig aufzuräumen. Ich ging ins Wohnzimmer, nahm die schmutzigen Gläser, setzte sie in der Küche in den Ausguß. Es war nichts Unordentliches mehr in der Wohnung, und doch sah es nicht aufgeräumt aus. Marie hat so eine geschickte und sehr rasche Art, ein Zimmer aufgeräumt erscheinen zu lassen, obwohl sie nichts Sichtbares, Kontrollierbares darin anstellt. Es muß an ihren Händen liegen. Der Gedanke an Maries Hände - nur die Vorstellung, daß sie ihre Hände Züpfner auf die Schulter legen könnte - steigerte meine Melancholie zur Verzweiflung. Eine Frau kann mit ihren Händen soviel ausdrücken oder vortäuschen, daß mir Männerhände immer wie angeleimte Holzklötze vorkommen. Männerhände sind Händedruckhände, Prügelhände, natürlich Schießhände und Unterschrifthände. Drücken, prügeln, schießen, Verrechnungsschecks unterschreiben - das ist alles, was Männerhände können, und natürlich: arbeiten. Frauenhände sind schon fast keine Hände mehr: ob sie Butter aufs Brot oder Haare aus der Stirn streichen. Kein Theologe ist je auf die Idee gekom-

men, über die Frauenhände im Evangelium zu predigen:

Veronika, Magdalena, Maria und Martha - lauter Frauenhände im Evangelium, die Christus Zärtlichkeiten erwiesen. Stattdessen predigen sie über Gesetze, Ordnungsprinzipien, Kunst, Staat. Christus hat sozusagen privat fast nur mit Frauen Umgang gehabt. Natürlich brauchte er Männer, weil die wie Kalick ein Verhältnis zur Macht haben, Sinn für Organisationen und den ganzen Unsinn. Er brauchte Männer, so wie man bei einem Umzug einfach Möbelpacker braucht, für die grobe Arbeit, und Petrus und Johannes waren ja so liebenswürdig, daß sie fast schon keine Männer mehr waren, während Paulus so männlich war, wie es sich für einen Römer geziemte. Wir bekamen zu Hause bei jeder sich bietenden Gelegenheit aus der Bibel vorgelesen, weil es in unserer Verwandtschaft von Pastoren wimmelt, aber keiner hat je über die Frauen im Evangelium oder so etwas Unfaßbares wie den ungerechten Mammon gesprochen. Auch bei den Katholiken im »Kreis« wollte nie einer über den ungerechten Mammon sprechen, Kinkel und Sommerwild lächelten immer nur verlegen, wenn ich sie darauf ansprach - als hätten sie Christus bei einem peinlichen Lapsus ertappt, und Fredebeul sprach von dem Verschleiß durch die Geschichte, den dieser Ausdruck erfahren habe. Ihn störte das »Irrationale« daran, wie er sagte. Als ob Geld etwas Rationales wäre. In Maries Händen verlor sogar das Geld seine Fragwürdigkeit, sie hatte eine wunderbare Art, achtlos und zugleich sehr achtsam da- mit umzugehen. Da ich Schecks und andere »Zahlungsmittel« grundsätzlich ablehne, bekam ich mein Honorar immer bar auf den Tisch des Hauses, und so brauchten wir nie länger als zwei, höchstens drei Tage im voraus zu planen. Sie gab fast jedem Geld, der sie darum anging, manchmal auch solchen, die sie gar nicht angegangen hatten, sondern von denen sich im Laufe des Gesprächs herausstellte, daß sie Geld brauchten. Einem Kellner in Göttingen bezahlte sie einmal einen Wintermantel für seinen gerade schulpflichtigen Jungen, und dauernd zahlte sie für hilflose, in Zügen

ins Erster-Klasse-Abteil verirrte Großmütter, die zu Beerdigun-

gen fuhren, Zuschläge und Übergänge. Es gibt unzählige Großmütter, die mit Zügen zu Beerdigungen von Kindern, Enkeln, Schwiegertöchtern und Schwiegersöhnen fahren und - manchmal natürlich mit einer gewissen Großmutter- hilflosigkeit kokettierend - sich umständlich mit schweren Koffern und Paketen voller Dauerwurst, Speck und Kuchen in Abteile erster Klasse fallen lassen. Marie zwang mich dann, die schweren Koffer und Pakete im Gepäcknetz unterzubringen, obwohl jedermann im Abteil wußte, daß die Oma nur eine Fahrkarte zweiter Klasse in der Tasche hatte. Sie ging dann auf den Flur und »regelte« die Sache mit dem Schaffner, bevor die Oma auf ihren Irrtum aufmerksam gemacht wurde. Marie fragte vorher immer, wie weit sie denn fahre, und wer denn gestorben sei - damit sie den Aufschlag auch richtig lösen konnte. Die Kommentare der Großmütter bestanden meistens in den liebenswürdigen Worten: »Die Jugend ist gar nicht so schlecht, wie sie immer gemacht wird«, das Honorar in gewaltigen Schinkenbroten. Besonders zwischen Dortmund und Hannover - so kam es mir immer vor - sind täglich viele Großmütter zu Beerdigungen unterwegs. Marie schämte sich immer, daß wir Erster fuhren, und es wäre ihr unerträglich gewesen, wenn jemand aus unserem Abteil hinausgeworfen worden wäre, weil er nur Zweiter gelöst hatte. Sie hatte eine unerschöpfliche Geduld beim Anhören sehr umständlicher Schilderungen von Verwandtschaftsverhältnissen und beim Anschauen von Fotos wildfremder Menschen. Einmal saßen wir zwei Stunden lang neben einer alten Bückeburger Bäuerin, die dreiundzwanzig Enkelkinder hatte und von jedem ein Foto bei sich trug, und wir hörten uns dreiundzwanzig Lebensläufe an, sahen dreiundzwanzig Fotos von jungen Männern und jungen Frauen, die es alle zu etwas gebracht hatten: Stadtinspektor in Münster, oder verheiratet mit einem Bahnbetriebsassistenten, Leiter eines Sägewerks, und ein anderer war »hauptamtlich in dieser Partei, die wir immer

wählen — Sie wissen schon«, und von einem weiteren, der bei der Bundeswehr war,

sie, der »wäre schon immer für das ganz Sichere« gewesen. Marie war immer ganz in diesen Geschichten drin, fand sie ungeheuer spannend und sprach vom »wahren Leben«, mich ermüdete das Element der Wiederholung in dieser Form. Es gab soviele Großmütter zwischen Dortmund und Hannover, deren Enkel Bahnassistenten waren, und deren Schwiegertöchter frühzeitig starben, weil sie »die Kinder nicht mehr alle zur Welt bringen, die Frauen heutzutage - das ist es«. Marie konnte sehr lieb sein und nett zu alten und hilfsbedürftigen Leuten; sie half ihnen auch bei jeder Gelegenheit beim Telefonieren. Ich sagte ihr einmal, sie hätte eigentlich zur Bahnhofsmission gehen sollen, und sie sagte etwas pikiert: »Warum nicht?« Ich hatte es gar nicht böse oder abfällig gemeint. Nun war sie ja in einer Art Bahnhofsmission, ich glaube, daß Züpfner sie geheiratet hat, um sie zu »retten«, sie ihn, um ihn zu »retten«, und ich war nicht sicher, ob er ihr erlauben würde, von seinem Geld Großmüttern D-Zug-Zuschlä- ge und den Übergang in die erste Klasse zu bezahlen. Er war bestimmt nicht geizig, aber auf eine so aufreibende Art bedürfnislos wie Leo. Er war nicht bedürfnislos wie Franz von Assisi, der sich die Bedürfnisse anderer Menschen vorstellen konnte, obwohl er selbst auch bedürfnislos war. Die Vorstellung, daß Marie jetzt Züpfners Geld in ihrer Handtasche hatte, war mir unerträglich, wie das Wort Flitterwochen und die Idee, ich könnte um Marie kämpfen. Kämpfen konnte doch nur körperlich gemeint sein. Selbst als schlecht trainierter Clown war ich sowohl Züpfner wie Sommerwild überlegen. Bevor sie sich auch nur in Positur gestellt hätten, hätte ich schon drei Purzelbäume geschlagen, mich von hinten an sie herangemacht, sie aufs Kreuz gelegt und in den Schwitzkasten genommen. Oder dachten sie etwa an regelrechte Schlä- gereien. Solch perverse Varianten der Nibelungensage waren ihnen zuzutrauen. Oder meinten sie's geistig? Ich hatte keine Angst vor ihnen, und warum hatte Marie meine Briefe, die ja eine Art geistigen Kampfes ankündigten, nicht beantworten dürfen? Sie

nahmen Worte wie Hochzeitsreise und Flit-

terwochen in den Mund und wollten mich obszön nennen, diese Heuchler. Sie sollten sich nur einmal anhören, was Kellner und Zimmermädchen sich von Flitterwochen und Hochzeitsreisenden erzählen. Da flüstert doch jeder miese Vogel im Zug, im Hotel, wo sie sich auch zeigen, hinter ihnen her »Flitterwochen«, und jedes Kind weiß, daß sie die Sache dauernd machen. Wer zieht die Wäsche vom Bett und wäscht sie? Wenn sie Züpfner die Hände auf die Schulter legt, muß ihr doch einfallen, wie ich ihre eiskalten Hände unter meinen Achseln gewärmt habe.


Ihre Hände, mit denen sie die Haustür öffnet, der kleinen Marie oben die Bettdecke geradezieht, in der Küche unten den Toaster einstöpselt, Wasser aufsetzt, eine Zigarette aus der Packung nimmt. Den Zettel des Mädchens findet sie diesmal nicht auf dem Küchentisch, sondern auf dem Eisschrank. »Bin ins Kino gegangen. Um zehn zurück.« Im Wohnzimmer auf dem Fernsehapparat Züpfners Zettel. »Mußte noch dringend zu F. Küsse, Heribert.« Eisschrank anstatt Küchentisch, Küsse statt Kuß. In der Küche, während du dick Butter, dick Leberwurst auf die Toastscheiben streichst, statt zwei, drei Löffel Schokoladenpulver in die Tasse tust, fühlst du sie zum erstenmal: Die Schlankheitskurengereiztheit, erinnerst dich der von Frau Blothert hingekreischten Feststellung, als du das zweite Stück Kuchen nahmst: »Aber das sind ja im ganzen mehr als fünfzehnhundert Kalorien, können Sie sich das leisten?« Der Metzgerblick auf die Taille, Blick, der die unausgesprochene Feststellung enthält:

»Nein, Sie können es sich nicht leisten.« Oh, allerheiligster Ka - ka -ka, du -nzler und - tholon! »Ja, ja, du fängst an, anzusetzen.« Es wird geflüstert in der Stadt, in der Flüsterstadt. Warum diese Unruhe, dieser Wunsch, im Dunkeln allein zu sein, in Kinos und Kirchen, im dunklen Wohnzimmer jetzt mit Schokolade und Toast. Was hast du auf der Tanzparty dem jungen Bengel geantwortet, der die Frage rasch herausschoß: »Sagen Sie mir schnell, was Sie lieben, gnädige Frau, schnell!«

Du wirst ihm die Wahrheit gesagt haben: »Kinder, Beichtstühle, Kinos, gregorianischen Choral und Clowns.« - »Und Männer nicht, gnädige Frau?« - »Doch, einen«, wirst du gesagt haben. »Nicht die Männer als solche, sie sind so dumm.« -

»Darf ich das publizieren?« - »Nein, nein, um Gottes willen, nein!« Wenn sie gesagt hat einen, aber warum sagt sie dann nicht meinen? Wenn man einen Mann liebt, in Worten einen, kann man doch nur seinen meinen, den angetrauten. Oh, vergessenes, verschlucktes kleines m.

Das Mädchen kommt nach Haus. Schlüssel ins Schloß, Tür auf, Tür zu, Schlüssel ins Schloß. Licht in der Diele an, aus, in der Küche an, Eisschranktür auf, zu, Licht in der Küche aus. In der Diele sanft an die Tür geklopft. »Gute Nacht, Frau Direktor.« - »Gute Nacht. War Marie lieb?« -»Ja, sehr.« Licht in der Diele aus, Schritte die Treppe hinauf. (»Da saß sie also ganz allein im dunklen Zimmer und hörte Kirchenmusik.«)

Alles rührst du mit diesen Händen an, die die Bettwäsche gewaschen haben, die ich unter meinen Achseln gewärmt habe: Plattenspieler, Platte, Hebel, Knopf, Tasse, Brot, Kinderhaar, Kinderdecke, den Tennisschläger. »Warum gehst du eigentlich nicht mehr zum Tennis ?« Achselzucken. Keine Lust, einfach keine Lust. Tennis ist so gut für Frauen von Politikern und führenden Katholiken. Nein, nein, so ganz identisch sind die Begriffe noch nicht. Es hält schlank, elastisch und attraktiv. »Und F. spielt so gern Tennis mit dir. Magst du ihn nicht?« Doch, doch. Er hat so was Herzliches. Ja, ja, man sagt, er sei mit »Schnauze und Ellenbogen« Minister geworden. Er gilt als Schurke, Intrigant, und doch ist seine Zuneigung zu Heribert echt: Korrupte und Brutale mögen manchmal Gewissenhafte, Unbestechliche. Wie rührend korrekt es bei Heriberts Hausbau zuging: keine Sonderkredite, keine »Hilfen« baugewerblich erfahrener Partei- und Konfessionsfreunde. Nur, weil er »Hanglage« wollte, mußte er

den Überpreis bezahlen, den er »an sich« für korrupt hält. Aber gerade die Hanglage

Wer auf Hängen baut, kann ansteigende oder abfallende Gärten wählen. Heribert hat abfallend gewählt - das erweist sich als Nachteil, wenn die kleine Marie anfangen wird, mit Bällen zu spielen, immer rollen die Bälle auf des Anliegers Hecke zu, manchmal durch diese durch in den Steingarten, knicken Zweige, Blumen, überrollen empfindliche, kostbare Moose und machen verkrampfte Entschuldigungsszenen notwendig. »Wie kann man nur einem so entzückenden kleinen Mädelchen böse sein?« Kann man nicht. Fröhlich wird von Silberstimmen Lässigkeit gemimt, von Schlankheitskuren verkrampfte Münder, angestrengte Hälse mit gespannten Muskeln geben Fröhlichkeit von sich, wo ein handfester Krach mit scharfem Wortwechsel das einzig Erlösende wäre. Alles verschluckt, mit falscher Nachbarschaftsfröhlichkeit zugedeckt, bis irgendwann an stillen Sommerabenden hinter verschlossenen Türen und heruntergelassenen Rolläden mit edlem Geschirr nach Embryogespenstern geworfen wird. »Ich wollte es doch haben - du, du wolltest nicht.« Edles Geschirr klingt nicht edel, wenn's an die Küchenwand .geworfen wird. Krankenwagensirenen heulen den Hang hinauf. Geknickter Krokus, verletztes Moos, Kinderhand rollt Kin- derball in Steingarten, heulende Sirenen verkünden den nicht erklärten Krieg. Oh, hätten wir ansteigenden Garten gewählt.


Das Klingeln des Telefons schreckte mich auf. Ich nahm den Hörer ab, wurde rot, ich hatte Monika Silvs vergessen. Sie sagte: »Hallo, Hans ?«Ich sagte: »Ja«, wußte noch nicht, weswegen sie anrief. Erst als sie sagte: »Sie werden enttäuscht sein«, fiel mir die Mazurka wieder ein. Ich konnte jetzt nicht mehr zurück, konnte nicht sagen

»ich verzichte«, wir mußten durch diese entsetzliche Mazurka hindurch. Ich hörte noch, wie Monika den Hörer auf den Flügel legte, zu spielen anfing, sie spielte ausgezeichnet, der Klang war hervorragend, aber während sie spielte, fing ich an, vor Elend zu weinen. Ich hätte nicht versuchen dürfen, diesen Augenblick zu

wiederholen: als ich von Marie nach Hause kam und Leo im Musikzimmer die Mazurka spielte. Man kann Augenblicke nicht wiederholen und nicht mitteilen. Der Herbstabend, bei uns im Park, als Edgar Wieneken die 100 Meter in 10,1 lief. Ich habe ihn eigenhändig gestoppt, eigenhändig für ihn die Strecke abgemessen, und er lief sie an diesem Abend in 10,1. Er war in Hochform, Hochstimmung -aber natürlich glaubte niemand es uns. Es war unser Fehler, daß wir überhaupt darüber sprachen und dem Augenblick dadurch Dauer verleihen wollten. Wir hätten glücklich sein sollen zu wissen, daß er wirklich 10,1 gelaufen war. Später lief er natürlich immer wieder seine 10,9 und 11,0, und niemand glaubte uns, sie lachten uns aus. Über solche Augenblicke reden ist schon falsch, sie wiederholen zu wollen, Selbstmord. Es war eine Art Selbst- mord, den ich beging, als ich jetzt Monika am Telefon zuhörte, wie sie Mazurka spielte. Es gibt rituelle Augenblicke, die die Wiederholung in sich schließen: wie Frau Wieneken das Brot schnitt - aber ich hatte auch diesen Augenblick mit Marie wiederholen wollen, indem ich sie einmal bat, doch das Brot so zu schneiden, wie Frau Wieneken es getan hatte. Die Küche einer Arbeiterwohnung ist kein Hotelzimmer, Marie war nicht Frau Wieneken - das Messer rutschte ihr aus, sie schnitt sich in den linken Oberarm, und dieses Erlebnis machte uns für drei Wochen krank. So teuflisch kann Sentimentalität ausgehen. Man soll Augenblicke lassen, nie wie- derholen.

Ich konnte vor Elend nicht einmal mehr weinen, als Monika mit der Mazurka zu Ende war. Sie muß es gespürt haben. Als sie ans Telefon kam, sagte sie nur leise: »Na, sehen Sie.« Ich sagte: »Es war mein Fehler - nicht Ihrer - verzeihen Sie mir.«

Ich fühlte mich, als läge ich besoffen und stinkend in der Gosse, mit Erbrochenem bedeckt, den Mund voll widerlicher Flüche, und als hätte ich jemand bestellt, mich zu fotografieren, und Monika das Foto geschickt. »Darf ich Sie noch einmal anrufen?«

fragte ich leise. »In ein paar Tagen viel-

leicht. Ich habe nur eine Erklärung für meine Scheußlichkeit, mir ist so elend, daß ich's nicht beschreiben kann.« Ich hörte nichts, nur ihren Atem, für ein paar Augenblicke, dann sagte sie: »Ich fahre weg, für vierzehn Tage.«

»Wohin?« fragte ich.


»In Exerzitien«, sagte sie, »und ein bißchen malen.«


»Wann kommen Sie her«, fragte ich, »und machen mir ein Omelette mit Pilzen und einen von Ihren hübschen Salaten?«

»Ich kann nicht kommen«, sagte sie, »jetzt nicht.«


»Später?« fragte ich.


»Ich komme«, sagte sie; ich hörte noch, daß sie weinte, dann legte sie auf.

20


Ich dachte, ich müßte ein Bad nehmen, so schmutzig fühlte ich mich, und ich dachte, ich müßte stinken, wie Lazarus gestunken hatte — aber ich war vollkommen sauber und roch nicht. Ich kroch in. die Küche, drehte das Gas unter den Bohnen ab, unter dem Wasser, ging wieder ins Wohnzimmer, setzte die Kognakflasche an den Mund: es half nichts. Nicht einmal das Klingeln des Telefons weckte mich aus meiner Dumpfheit. Ich nahm auf, sagte: »Ja?« und Sabine Emonds sagte: »Hans, was machst du für Sachen?« Ich schwieg, und sie sagte: »Schickst Telegramme. Das wirkt so dramatisch. Ist es denn so schlimm?«

»Schlimm genug«, sagte ich matt.


»Ich war mit den Kindern spazieren«, sagte sie, »und Karl ist für eine Woche weg, mit seiner Klasse in einem Landschulheim - und ich mußte erst jemand zu den Kindern holen, bevor ich anrufen konnte.« Ihre Stimme klang gehetzt, auch ein bißchen gereizt, wie sie immer klingt. Ich brachte es nicht über mich, sie um Geld zu bitten. Seitdem er verheiratet ist, rechnet Karl an seinem Existenzminimum herum; er hatte drei Kinder, als ich den Krach mit ihm bekam, das vierte war damals unterwegs, aber ich hatte nicht den Mut, Sabine zu fragen, ob es inzwischen angekommen war. Immer herrschte in ihrer Wohnung diese schon nicht mehr gedämpfte Gereiztheit, überall lagen seine verfluchten Notizbücher herum, in denen er Berechnungen anstellt, wie er mit seinem Gehalt zurechtkommen könnte, und wenn ich allein mit ihm war, wurde Karl immer auf eine scheußliche Weise »offen« und fing seine Unter-Männern- Gespräche an, übers Kinderkriegen, und immer fing er an, der katholischen Kirche Vorwürfe zu machen (ausgerechnet mir gegenüber!), und es kam immer ein Punkt, wo er mich wie ein heulender Hund ansah, und meistens kam gerade dann Sabine

herein, schaute ihn verbittert an, weil sie wieder schwanger war. Für mich gibt es kaum

etwas Peinlicheres, als wenn eine Frau ihren Mann verbittert anschaut, weil sie schwanger ist. Schließlich hockten sie beide da und heulten, weil sie sich doch wirklich gern haben. Im Hintergrund der Kinderlärm, Nachttöpfe wurden mit Wonne umgeschmissen, klatschnasse Waschlappen gegen nagelneue Tapeten geworfen, während Karl immer von »Disziplin, Disziplin« und von »absolutem, unbedingtem Gehorsam« spricht, und es blieb mir nichts anderes übrig, als ins Kinderzimmer zu gehen und den Kindern ein paar Faxen vorzumachen, um sie zu beruhigen, aber es beruhigte sie nie, sie kreischten vor Vergnügen, wollten mir alles nachmachen, und zu guter Letzt hockten wir da, hatten jeder ein Kind auf dem Schoß, die Kinder durften an unseren Weingläsern nippen. Karl und Sabine fingen an, von den Büchern und Kalendern zu sprechen, in denen man nachsehen kann, wann eine Frau kein Kind kriegen kann. Und dann bekommen sie dauernd Kinder, und es fiel ihnen nicht ein, daß diese Erzählungen Marie und mich besonders quälen mußten, weil wir ja keine Kinder bekamen. Wenn Karl dann betrunken war, fing er an, Flüche nach Rom zu schicken, unselige Wünsche auf Kardinalshäupter und Papstgemüter zu häufen, und das Groteske war, daß ich anfing, den Papst zu verteidigen. Marie wußte noch viel besser Bescheid und klärte Karl und Sabine darüber auf, daß die in Rom in dieser Frage ja gar nicht anders können. Zuletzt wurden sie beide listig und blickten sich an, als wollten sie sagen: Ach, ihr - ihr müßt doch etwas ganz Raffiniertes anstellen, daß ihr keine Kinder kriegt, und es endete meistens damit, daß eins der übermüdeten Kinder Marie, mir, Karl oder Sabine das Weinglas aus der Hand riß und den Wein über die Klassenarbeitshefte ausgoß, die Karl immer stapelweise auf dem Schreibtisch liegen hat. Das war natürlich peinlich für Karl, der seinen Schülern dauernd von Disziplin und Ordnung vorpredigt, ihnen dann ihre Klassenarbeitshefte mit Weinflecken zurückgeben muß. Es gab Prügel, Weinen, und indem sie uns einen

»Ach-ihr-Männer-Blick« zuwarf, ging Sabine mit Marie in die Küche, um Kaffee

zu kochen, und sicher hatten sie dann ihr Unter-Frauen-Gespräch, etwas, das Marie so peinlich ist wie mir das Unter-Männern-Gespräch. Wenn ich dann mit Karl allein war, fing er wieder von Geld an, in vorwurfsvollem Ton, als wenn er sagen wollte: Ich rede mit dir darüber, weil du ein netter Kerl bist, aber verstehen tust du nichts davon.


Ich seufzte und sagte: »Sabine, ich bin vollkommen ruiniert, beruflich, seelisch, körperlich, finanziell... ich bin...«

»Wenn du wirklich Hunger hast«, sagte sie, »dann weißt du doch hoffentlich, wo immer ein Töpfchen Suppe für dich auf dem Herd steht.« Ich schwieg, ich war gerührt, es klang so ehrlich und trocken. »Hörst du?« sagte sie.

»Ich höre«, sagte ich, »und ich werde spätestens morgen mittag kommen und mein Töpfchen Suppe essen. Und wenn ihr noch einmal jemand braucht, der auf die Kinder aufpassen muß, ich - ich«, ich stockte. Ich konnte ja schlecht, was ich immer umsonst für sie getan hatte, jetzt für Geld anbieten, und die idiotische Geschichte mit dem Ei, das ich Gregor gegeben hatte, fiel mir ein. Sabine lachte und sagte: »Na, sag's doch.« Ich sagte: »Ich meine, wenn ihr mich bei Bekannten empfehlen könntet, ich habe ja Telefon - und ich mach's so billig wie jeder andere.«

Sie schwieg, und ich konnte gut merken, daß sie erschüttert war. »Du«, sagte sie,


»ich kann nicht mehr lange sprechen, aber sag mir doch - was ist denn passiert?« Offenbar war sie die einzige in Bonn, die Kosterts Kritik nicht gelesen hatte, und mir fiel ein, daß sie ja gar nicht wissen konnte, was zwischen Marie und mir geschehen war. Sie kannte ja keinen aus dem Kreis.

»Sabine«, sagte ich, »Marie ist von mir weg - und hat einen gewissen Züpfner geheiratet.«

»Mein Gott«, rief sie, »das ist doch nicht wahr.«


»Es ist wahr«, sagte ich.


Sie schwieg, und ich hörte, wie gegen die Tür der Telefonzelle gebumst wurde.

bruder mitteilen wollte, wie er das Herz Solo ohne drei hätte gewinnen können.


»Du hättest sie heiraten sollen«, sagte Sabine leise, »ich meine - ach, du weißt, was ich meine.«

»Ich weiß«, sagte ich, »ich wollte ja, aber dann kam heraus, daß man diesen verfluchten Schein vom Standesamt haben muß, und daß ich unterschreiben, verstehst du, unterschreiben mußte, die Kinder katholisch erziehen zu lassen.«

»Aber es ist doch nicht daran gescheitert?« fragte sie. Das Bumsen an der Tür der Telefonzelle wurde stärker.

»Ich weiß nicht«, sagte ich, »der Anlaß war's schon - aber es kommt wohl vieles hinzu, was ich nicht verstehe. Häng jetzt ein, Sabinchen, sonst bringt dich dieser erregte deutsche Mensch an der Tür noch um. Es wimmelt von Unholden in diesem Land.« - »Du mußt mir versprechen, zu kommen«, sagte sie, »und denk daran: dein Süppchen steht den ganzen Tag auf dem Feuer.« Ich hörte, daß ihre Stimme schwach wurde, sie flüsterte noch: »Wie gemein, wie gemein«, aber sie hatte offenbar in ihrer Verwirrung nicht den Hörer .auf die Gabel gelegt, nur auf das Tischchen, auf dem immer das Telefonbuch liegt. Ich hörte den Kerl sagen: »Na, endlich«, aber Sabine schien schon weg zu sein. Ich schrie ins Telefon laut: »Hilfe, Hilfe«, mit einer schrillen, hohen Stimme, der Kerl fiel drauf rein, nahm den Hörer auf und sagte: »Kann ich etwas für Sie tun?« Seine Stimme klang seriös, gefaßt, sehr männlich, und ich konnte riechen, daß er irgendetwas Saures gegessen hatte, eingelegte Heringe oder etwas ähnliches. »Hallo, hallo«, sagte er, und ich sagte: »Sind Sie Deutscher, ich spreche grundsätzlich nur mit deutschen Menschen.«

»Das ist ein guter Grundsatz«, sagte er, »wo fehlt's denn bei Ihnen?«


»Ich mache mir Sorgen um die CDU«, sagte ich, »wählen Sie auch fleißig CDU?«

»Aber das ist doch selbstverständlich«, sagte er beleidigt, und ich sagte: »Dann bin ich beruhigt«, und legte auf.